Author
Michael Marchetti
19 minute read

 

Den Job verloren. Die Ehe geschieden. Mit der Miete im Rückstand. Irgendwann landet man auf der Straße. Doch wie fühlt es sich wirklich an, unter einer Brücke aufzuwachen? Ohne Zahnbürste, stinkend, vom Rest der Welt gemieden? Ich habe mich einer meiner größten Ängste gestellt – und vier Tage lang Einblicke in eine andere Welt erlebt.


Es war ein Traum, der alles in Bewegung setzte. Im Herbst 2023 träumte ich, dass ich auf einer Brücke über der Mur im Zentrum von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, saß und bettelte. Es war ein kraftvolles Bild, und es war mit einem unerklärlichen Gefühl verbunden: Freiheit.

Graz kannte ich bis dahin oberflächlich, von Tagesausflügen und einigen Hotelübernachtungen aus meiner Pilotenzeit: 300.000 Einwohner, eine hübsche Altstadt mit vielen Cafés und gepflegten Parks, gelegen am Ufer der Mur. Ein gutes halbes Jahr später bin ich dort. Vier Tage habe ich mir in meinem Kalender freigehalten, um der Sache auf den Grund zu gehen. Mich dem auszusetzen, wovor ich in meinen schlaflosen Nächten am meisten Angst hatte: zu scheitern und in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Alles zu verlieren. So sehr ich mich auch bemühte, es mir vorzustellen, ich konnte es mir nicht ausmalen. So ein Leben war zu weit weg. Allein in der Wildnis, minimalistisch leben, 3000km zu Fuß gehen – das hatte ich alles schon einmal probiert. Aber mitten in einer Großstadt, in Mülltonnen nach Essen suchen, auf dem Asphalt schlafen und tagelang die Kleidung nicht wechseln – das war eine andere Kategorie. Wo sollte ich auf die Toilette gehen? Was würde ich tun, wenn es regnete? Wen würde ich um Essen anbetteln? Wie geht man damit um, anderen zur Last zu fallen, die einen bestenfalls ignorieren? Wenn alles wegfällt, was wir in unserem Leben oft als selbstverständlich erachten – was bleibt dann eigentlich noch von uns selbst übrig?

Ich starte mein Experiment an einem Donnerstag Ende Mai gegen Mittag in einem Parkhaus im Grazer Jakomini. Aufgeregt und gut vorbereitet. In diesem Fall heißt das: zerrissene Kleidung und so wenig Gepäck wie möglich.

Nach ein paar Schritten kommt mir auf dem Gehsteig eine Frau entgegen, gutaussehend, schulterlanges braunes Haar, geschminkt und voller Energie. Ich: lächle sie an. Sie: schaut durch mich hindurch. Das irritiert mich. Bis ich mein Spiegelbild in einem dunklen Schaufenster erblicke. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten habe ich einen Bart im Gesicht. Statt eines weißen Hemdes trage ich ein zerfetztes blaues T-Shirt, dessen Schriftzug sich löst. Ungewaschene Haare, bedeckt von einer zerfetzten, grauen Schirmmütze. Jeans mit Flecken, der oberste Knopf mit einem Gummiband zugebunden. Keine lässigen Sneakers, sondern schwarze Kicks mit Schlamm drauf. Kein Smartphone. Kein Internet. Kein Geld. Dafür eine Plastiktüte aus der Drogerie über der Schulter. Inhalt: eine kleine Pet-Flasche mit Wasser, ein alter Schlafsack, eine Regenjacke und ein Stück Plastikfolie. Die Wettervorhersage ist wechselhaft, vor ein paar Tagen hat ein Mini-Tornado die Stadt heimgesucht. Wo ich übernachten werde, weiß ich noch nicht. Einzige Voraussetzung: auf der Straße.

Die Idee zu einem solchen "Street Retreat" hatte der amerikanische Zen-Mönch Bernie Glassman. Glassman, 1939 in New York geboren, hatte eine Ausbildung zum Flugzeugingenieur absolviert und in Mathematik promoviert. In den 1960er Jahren lernte er in Kalifornien einen Zen-Meister kennen und wurde später selbst einer. Er glaubte nicht daran, Spiritualität nur im Tempel zu leben. Er wollte raus auf das Spielfeld des Lebens und den Dreck zwischen seinen Fingern spüren. "Zen ist das Ganze", schrieb Bernie Glasmann: "Der blaue Himmel, der bewölkte Himmel, der Vogel am Himmel - und der Vogelkot, in den man auf der Straße tritt."

Seine Schüler, darunter auch Schauspieler Jeff Bridges, verfolgen drei Prinzipien: Erstens, nicht zu glauben, dass man etwas weiß. Zweitens, Zeuge dessen zu sein, was tatsächlich vor unseren Augen geschieht, und drittens, aus dieser Motivation heraus zu handeln.

Die Beschreibung der Retreats, mit denen Glassman auch CEOs großer Unternehmen tagelang auf Reisen mitnahm, liest sich im Internet wie eine Anleitung zur Auflösung der eigenen Identität. Um sich darauf einzustimmen, soll man sich fünf Tage lang zu Hause weder rasieren noch die Haare waschen. Meine Töchter und meine Frau beobachten das mit Argwohn, sie wissen nicht so recht, was sie davon halten sollen. „Wir könnten einen Obdachlosen zu uns einladen“, schlägt meine jüngere Tochter vor. Das würde in ihren Augen mehr Sinn ergeben. Vielleicht. Aber zu spüren, wie es ist, die Nacht ohne jeglichen Komfort auf der Straße zu verbringen, ist eine andere Sache. Der einzige persönliche Gegenstand, der mir erlaubt ist, ist ein Personalausweis.

Was die Motivation angeht, geht es mir gut, solange die Sonne scheint. Die Leute sitzen in den Cafés, das Wochenende ist nicht mehr weit, sie stoßen mit einem Glas Apérol an und lachen. Gestern war das auch meine Welt, aber ohne einen Cent in der Tasche ändert sich alles. Was ich für selbstverständlich hielt, ist für mich plötzlich unerreichbar. Sesam, öffne dich, es fehlt nur noch die Zauberformel. Kein Bankautomat, der mich aus der Patsche hilft. Kein Freund, der mich einlädt. Erst jetzt wird mir bewusst, wie kommerzialisiert unser öffentlicher Raum ist. Wie durch eine unsichtbare Glasscheibe getrennt stapfe ich ziellos durch die Stadt. Ich spähe in Altpapiercontainer, um Kartons für die Nacht zu finden und halte Ausschau nach unauffälligen Schlafplätzen.

Das Gelände des Ostbahnhofs ist mit Videokameras und Zäunen gesichert, deshalb versuche ich erst gar nicht hineinzukommen. Im Stadtpark: Tristesse. Das Gebäude des ehemaligen Künstlertreffs Forum Stadtpark liegt verlassen, unweit von dem Ort, an dem sich zugedröhnte junge Leute tummeln. Sie schreien und streiten. Die Polizei patrouilliert mit ihren Streifenwagen. Jogger drehen dazwischen ihre Runden. Ein paar Gehminuten weiter oben, auf dem Schlossberg mit seinem Uhrturm, dem Wahrzeichen der Stadt, belohnt ein Panoramablick über die Dächer den Aufstieg. Der Rasen hier ist akkurat getrimmt, Rosen blühen und ein Biergarten versorgt die Touristen. Ein junges deutsches Paar sitzt auf der Bank neben mir, er hat Geburtstag, Mitte 20, und er hört eine Sprachnachricht seiner Eltern, die ihn offensichtlich sehr lieben, man hört die Küsse, die sie ihm immer wieder schicken, seine Freundin umarmt ihn. Feiern Obdachlose ihren Geburtstag? Mit wem? Regentropfen reißen mich aus meinen Gedanken.

Der chinesische Pavillon mit Dach würde zwar Schutz vor Regen bieten, seine Bänke sind aber zu eng für eine Übernachtung. Vielleicht mit Absicht. Und auch hier: Videokameras an jeder Ecke. Zu bequem soll es sich hier niemand machen.

Im Augarten, der direkt am Murufer liegt, gibt es zwar hölzerne Sonnendecks, aber dort zu übernachten ist wie in einem Schaufenster zu liegen, weithin sichtbar und beleuchtet, und ich habe keine Lust auf Polizeikontrollen, die mich unsanft aus dem Schlaf reißen. Die versteckteren Stellen am Ufer sind wegen des Murhochwassers abgesperrt. Es ist gar nicht so einfach, einen guten Schlafplatz zu finden. Oder bin ich zu wählerisch? Baustämme treiben im braunen Wasser vorbei, ein paar Enten schwimmen in einer Bucht. Nicht weit entfernt sitzt ein Mann auf einer Parkbank, ungefähr in meinem Alter, also um die 50. Er sieht etwas heruntergekommen aus und kaut auf einem Käsebrötchen herum. Mein Magen knurrt. Soll ich ihn ansprechen? Ich zögere, gebe dann aber nach. Weiß er, wo man in Graz ohne Geld etwas essen kann? Er sieht mich kurz an, senkt dann den Blick und isst weiter. Ich bleibe unschlüssig stehen, und er bedeutet mir mit der Hand, wegzugehen. „Nicht, nicht!“ sagt er wütend.

Wie schwierig ist die Kommunikation mit anderen Obdachlosen? Vor allem, wenn die meisten auch Alkohol- und psychische Probleme haben. Gibt es Solidarität, hilft man sich gegenseitig? Ich weiß noch so gut wie nichts darüber. Ich habe mich vorher informiert, dass es am Hauptbahnhof eine Bahnhofsmission mit Tagesstätte und vermutlich auch etwas zu essen gibt. Also mache ich mich auf den Weg. Unterwegs komme ich an zwei öffentlichen Toiletten vorbei. Wenigstens braucht man keine Münzen, um hineinzukommen. Ich riskiere einen Blick. Der Toilettensitz fehlt. Es riecht beißend nach Urin. Toilettenpapier liegt zerrissen auf dem Boden. Okay. Das hebe ich mir für später auf.

Im Volksgarten, den ich durchquere, tuscheln junge Kids mit arabischen Wurzeln und scheinen sich nicht ganz sicher zu sein, ob ich Drogen oder sonst etwas bei ihnen kaufen will. „Was brauchst du?“, fragt einer von ihnen, halb so alt wie ich. Wortlos gehe ich weiter. Schließlich stehe ich vor der Bahnhofsmission. Hinter der Glastür hängt ein Schild: „Geschlossen“. Bis zum Winter. Und jetzt? Keine Ahnung. Ich schaue mich um. Ein Taxistand. Busse. Ein Supermarkt. Viel Asphalt. Autos. Abgase. Hitze. Kein gemütlicher Ort. Müdigkeit bricht durch. Das Gefühl, nirgends willkommen zu sein. Als Obdachloser, so dämmert es mir in diesen Minuten, hat man keine Privatsphäre – ist ständig im öffentlichen Raum unterwegs. Daran gewöhnt man sich nicht leicht.

Ein paar hundert Meter weiter verteilt die Caritas im Restaurant „Marienstüberl“ Sandwiches. Ich stolpere am Tor vorbei. Wer pünktlich um 13 Uhr kommt, bekommt sogar ohne Wenn und Aber eine warme Mahlzeit. Ich habe es zwar um zwei Stunden verpasst, aber ein freundlicher Beamter reicht mir drei Sandwiches, gefüllt mit Eiern, Tomaten, Salat, Thunfisch und Käse. Außerdem darf ich mir noch ein Brot in die Plastiktüte stopfen.

Ich bin erst einmal zufrieden, sitze auf einer Bank direkt an der Mur in der Altstadt und beiße in das Sandwich. Von meinem Experiment habe ich vorab nur wenigen Leuten erzählt. Nicht alle finden es toll. Auch Bernie Glassman wurde immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei gar nicht obdachlos und würde es nur vortäuschen. Doch das störte ihn nicht: Es sei besser, einen Blick auf eine andere Realität zu erhaschen, als keine Ahnung davon zu haben, argumentierte er.

Statistiken zeigen jedenfalls: Je länger die Obdachlosigkeit andauert, desto schwieriger ist es, aus ihr herauszukommen. Soll ich bei zufälligen Begegnungen mit Betroffenen meine wahre Identität preisgeben? Zugeben, dass es sich für mich um einen vorübergehenden Ausflug handelt? Ich habe mir vorgenommen, spontan zu entscheiden und lieber auszuweichen, als zu lügen.

Die schlichte Wahrheit ist jedenfalls, dass ich noch immer keinen Schlafplatz für die Nacht habe und die Stimmung droht zu kippen, als wieder dicke Regentropfen vom Himmel fallen. Ersatzkleidung habe ich keine. Wenn ich nass werde, bleibe ich die ganze Nacht nass. Außerdem bin ich mittlerweile richtig müde und die Plastiktüte nervt. Ohne Google Maps muss ich mich auf mein Gedächtnis und die Wegweiser verlassen. Ich habe versucht, mir die wichtigsten Straßen im Vorfeld einzuprägen, aber jede falsche Abzweigung bedeutet einen Umweg. Jetzt spüre ich es.

Ich gehe am Opernhaus vorbei, drinnen festliche Beleuchtung, eine Frau huscht durch die Eingangstür. Es ist halb acht, dunkle Wolken am Himmel. Was nun? Soll ich es mir in der Einfahrt eines vorbeifahrenden Autohauses oder auf einer Parkbank im Augarten gemütlich machen? Ich kann mich nicht entscheiden. Erst als ich im Süden der Stadt auf ein Industriegebiet stoße, tut sich eine passende Möglichkeit auf: unter der Treppe zum Warenausgang eines großen Möbellagers. Im Freien gibt es Nischen, hinter denen man nicht gleich zu sehen ist. Zwei vor der Treppe geparkte Lieferwagen sorgen für Privatsphäre. Trotzdem warte ich bis es dunkel wird, bevor ich mich wage, meinen Schlafsack auszurollen. Ich stelle ein paar Getränkekartons darunter und schlafe schließlich mit Blick auf Autoreifen, Nummernschilder und eine Kartonpresse ein. Als auf den Nachbargleisen der Schnellzug vorbeifährt, vibriert die Erde und reißt mich aus meinem Halbschlaf.

Was ich nicht wusste: Leere Parkplätze in Industriegebieten ziehen Nachtschwärmer offenbar magisch an. Bis etwa zwei Uhr morgens taucht immer wieder jemand auf. Ein paar Meter weiter parkt ein Pärchen für ein paar Minuten. Irgendwann hält hinter dem geparkten Truck ein aufgemotzter Sportwagen, dessen polierte Alufelgen im Mondlicht glänzen. Ein Mann in Shorts steigt aus, raucht eine Zigarette, telefoniert in einer fremden Sprache und regt sich auf. Er läuft auf dem Parkplatz auf und ab. Dann dreht er sich in meine Richtung. Mir stockt der Atem. Für ein paar Sekunden, in denen ich mich nicht traue, mich zu bewegen, schauen wir uns in die Augen. Vielleicht wäre ein Handy in der Tasche doch eine gute Idee gewesen, nur für den Fall. Er scheint sich nicht sicher zu sein, ob jemand da ist. Ruhig steht er da und starrt in meine Richtung. Dann wacht er aus seiner Lethargie auf, steigt ins Auto und fährt davon. Ich atme erleichtert auf. Irgendwann, weit nach Mitternacht, schlafe ich ein.

Es ist Vollmondnacht, und das hat etwas Beruhigendes. Der Mond scheint für alle, egal, wie viel Geld man in der Tasche hat. So wie die Vögel für alle zwitschern, wenn um halb fünf langsam der Tag anbricht. Ich krieche aus meinem Schlafsack, strecke mich und gähne. Rote Flecken auf meinen Hüften sind Spuren einer harten Nacht. Aus dem Rückspiegel des Vans starrt mir ein müdes Gesicht entgegen, die Augen sind zugeschwollen. Ich fahre mit meinen staubigen Fingern durch mein wirres Haar. Vielleicht bekomme ich irgendwo einen Kaffee? Noch ist es ruhig auf den Straßen. In einer benachbarten Diskothek geht die Arbeitsschicht zu Ende, eine junge Frau kommt aus der Tür, schlüpft in ihre Jacke, zieht an einer Zigarette und steigt dann in ein Taxi. Vor einem Bürogebäude beginnen Mitarbeiter einer Reinigungsfirma ihre Schicht. Ein Mann geht mit seinem Hund draußen spazieren und wartet vor einem geschlossenen Bahnübergang. Der McDonald’s in der Nähe des Messegeländes hat noch geschlossen. An der Tankstelle gegenüber frage ich den Tankwart, ob ich einen Kaffee haben kann. „Aber ich habe kein Geld“, sage ich, „geht das noch?“ Er schaut mich verdutzt an, dann auf die Kaffeemaschine, dann überlegt er kurz. „Ja, das geht. Ich kann dir eine kleine machen. Was magst du?“ Er reicht mir den Pappbecher, dazu Zucker und Sahne. Ich setze mich an einen Stehtisch, bin zu müde zum Reden. Hinter mir hockt jemand wortlos an einem Spielautomaten. Nach ein paar Minuten gehe ich dankbar weiter. „Einen schönen Tag noch!“, wünscht mir der Tankwart.
Draußen hebe ich die Deckel einiger Biotonnen an, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, doch außer Gemüseresten ist nichts da. Mein Frühstück besteht aus Stücken des Brotes, das ich am Vortag gekauft habe.

Gegen sieben erwacht die Stadt. Am Lendplatz bauen Marktstände ihre Stände auf, sie verkaufen Kräuter, Gemüse und Obst. Es riecht nach Sommer. Ich frage eine Verkäuferin, ob sie mir etwas geben kann. Sie reicht mir einen Apfel, scheint etwas verlegen wegen der Situation. „Den hier gebe ich dir!“, sagt sie. Weniger Glück habe ich bei einer Bäckerei: „Das unverkaufte Gebäck geht immer in den nachmittaglichen Verkauf“, sagt die Dame hinter der Theke. Immerhin lächelt sie höflich, obwohl ich kein Kunde bin. Selbst ein paar Läden weiter, wo die Leute auf dem Weg zur Arbeit noch schnell frühstücken, will keiner der Verkäufer mit den frischen Stoffschürzen nachgeben. Bleibt die Hardcore-Option: Betteln auf der Straße. Es kostet viel Überwindung, mich mitten in Graz fragenden Kinderaugen und skeptischen Blicken auszusetzen. Ein Straßenbahnfahrer, der mich aus den Augenwinkeln anstarrt. Menschen im Anzug auf dem Weg zur Arbeit. Ich tue es trotzdem. Mitten in der Rush Hour, zwischen Straßenbahngarnituren, Radfahrern und vorbeirollenden Schuhpaaren, setze ich mich auf den Boden, den leeren Kaffeebecher von der Tankstelle vor mir. Auf der Erzherzog-Johann-Brücke, genau dort, wo ich im Traum gebettelt habe. Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die Straße, wenige Meter darunter schwappt das braune Hochwasser gegen die Brückenpfeiler. Ich schließe die Augen und vergleiche das Gefühl mit meinem Traum. Es ist wie die Antithese zu meinem früheren Leben in der glänzenden Kapitänsuniform. Vom Schweben über den Wolken hinunter in den schmuddeligen Alltag auf der Straße. Als bräuchte ich diese Perspektive als Mosaikstein, um das Panorama zu vervollständigen. Menschsein, in all seinen Facetten. Alles ist möglich, die Bandbreite ist riesig. Und doch: Hinter der Fassade bleibt etwas unverändert. Ich bin derselbe. Vielleicht liegt hierin der Ursprung des Freiheitsgefühls im Traum, das so gar nicht zur Situation zu passen schien.

Ein Mann im Jackett nähert sich von rechts, er hat Kopfhörer in den Ohren. Im Vorbeigehen mustert er mich blitzschnell, beugt sich dann zu mir herüber und wirft ein paar Münzen in den Becher. „Vielen Dank!“, sage ich, als er schon ein paar Meter entfernt ist. Nur wenige Passanten trauen sich, direkten Blickkontakt aufzunehmen. Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Das Tempo ist hoch. Eine Frau im Kostüm läuft in Lackschuhen vorbei, ein Mann im Anzug auf einem E-Bike zieht an einer E-Zigarette und lässt seine Hand im Vorbeigehen lässig baumeln. Wir spielen unsere Rollen so gut, dass wir am Ende selbst daran glauben.

Ab und zu bekomme ich einen direkten Blick. Ein dreijähriges Mädchen schaut mich neugierig an, dann zieht ihre Mutter sie mit. Ein älterer Mann scheint mich mit seinen Augen aufmuntern zu wollen. Und dann kommt eine Frau vorbei, vielleicht Anfang 30, im T-Shirt, freundliches Gesicht, blonde Haare. Sie schaut mich einen Moment so sanft an, dass mich ihr Blick, der nicht länger als eine Sekunde währt, durch den restlichen Tag trägt. Es gibt keine Fragen, keine Kritik, keinen Tadel – nur Freundlichkeit. Sie schenkt mir ein Lächeln, das mehr wert ist als alles andere. Viele Münzen sind ohnehin nicht in der Tasse. 40 Cent in einer halben Stunde. Das reicht nicht für ein großes Frühstück.

Umso pünktlicher bin ich zum Mittagessen im Marienstüberl, kurz vor 13 Uhr. Es ist muffig drinnen. Keine Tischdecken, keine Servietten. Lebensgeschichten spiegeln sich in abgenutzten Körpern, kaum ein Lächeln ist auf den Gesichtern zu finden.

Augenpaare folgen mir stumm, als ich einen Platz suche. Überhaupt scheint hier jeder auf sich allein gestellt zu sein. Einer kauert mit dem Kopf in den Armen am Tisch. Schwester Elisabeth kennt jeden. Sie führt das Marienstüberl seit 20 Jahren und entscheidet, wer bleiben darf und wer gehen muss, wenn es Streit gibt. Resolut und katholisch, mit getönter Brille und dunklem Schleier auf dem Kopf. Bevor sie das Essen austeilt, betet sie erst einmal. Ins Mikrofon. Erst das „Vater unser“. Dann das „Ave Maria“. Einige beten laut, andere bewegen nur die Lippen, andere schweigen. Im Speisesaal unter den Jesusbildern sitzen ältere Damen ohne Zähne neben Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, Afrika und Russland. Menschen, die auf der Flucht alles verloren haben. Emotionen können aus dem Nichts aufblitzen, harsch, unerwartet und schnell folgen Fäuste. An einem der Tische droht ein Streit zu eskalieren, zwei Männer sind in Streit geraten, wer zuerst da war. Die beiden Sozialarbeiter mit ihren blauen Gummihandschuhen wirken hilflos. Dann stürzt sich Schwester Elisabeth ins Getümmel, brüllt los und sorgt mit der nötigen Autorität für Ordnung. „Wir müssen den Streit draußen lassen“, sagt sie. „Versöhnung ist wichtig, sonst haben wir jeden Tag Krieg im Herzen. Gott helfe uns, denn allein schaffen wir das nicht. Gesegnetes Mahl!“

Ich sitze neben Ines aus Graz und löffle die dünne Erbsensuppe. „Ich hätte gern noch eine Portion mehr, wenn ich dürfte“, bittet sie die Bedienung. Sie erzählt von ihrer Kindheit, als ihre Mutter sie zum Kleiderkauf nach Wien mitnahm und sie im Hotel übernachten durfte, und davon, dass sie einmal im Jahr an einer von der Diözese organisierten Wallfahrt teilnimmt. „Einmal waren wir beim Bischof“, sagt sie, „da gab es was, was ich noch nie erlebt habe!“ Nach der Hauptspeise, Kartoffelpuffer mit Salat, verteilen die Ehrenamtlichen Becher mit Birnenjoghurt und leicht gebräunten Bananen.

Zum Abschied flüstert mir Ines noch einen Geheimtipp zu: Wer nachmittags eine Stunde in der Kapelle den Rosenkranz betet, bekommt anschließend Kaffee und Kuchen!

Kaum haben sie gegessen, stehen die meisten auf und gehen, ohne Hallo zu sagen. Zurück in eine Welt, die nicht auf sie gewartet hat. Smalltalk ist für andere.

Nach dem warmen Essen sitzt eine kleine Gruppe auf den Bänken vor dem Speisesaal und Türen öffnen sich zu Lebensgeschichten. Da ist Ingrid, Mitte 70, die von Immobilienspekulanten aus ihrer Wohnung in Wien vertrieben wurde und deren Sohn vor Jahren bei einem Bergunfall starb. Sie ist belesen und gebildet und sieht aus, als wäre sie im falschen Film gelandet. Josip kam 1973 als Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Wien. Er fand Arbeit als Elektriker, arbeitete später 12 Stunden täglich in einem Kraftwerk und lebt heute allein in einem Obdachlosenheim in Graz. Da ist Robert aus Kärnten, mit Ekzemen an den Beinen und weißer Haut, dünn wie Papier. Fröhlich fragt er, ob wir ihn zum Wörthersee begleiten möchten. „Kommt ihr schwimmen?“ Dann steht er plötzlich unruhig auf und pustet minutenlang Staub von seinen Armen, was nur er sehen kann.

Christine, um die 40 Jahre alt, hat Sprachwissenschaften studiert und plaudert auf Französisch mit Viktor, einem gebürtigen Italiener, ein paar Jahre älter als sie, kunstinteressiert und wortgewandt. Er ist mit dem Rad unterwegs. In einer seiner Satteltaschen hat er einen Band des französischen Dichters Rimbaud. Er lebt lieber auf der Straße als in einem Heim, weil er nicht genug Luft bekommt. Mit einem Gutschein – seinem letzten –, den er einst im Tausch gegen ein Buch bekommen hat, lädt er mich auf einen Kaffee in die Stadt ein. Er zieht einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche mit einer Ankündigung: „Einladung zum Sommerfest“. In einem noblen Grazer Stadtteil. Für Essen und Trinken sei gesorgt, steht da. „Ich bin morgen ab Mittag da.“ Er grinst. „Kommst du?“ Klar. Doch am nächsten Tag bin ich zur vereinbarten Zeit allein an der Adresse. Viktor sehe ich nicht mehr.

Was ich im Marienstüberl lerne: Das Herz bricht alle Regeln, überwindet Grenzen tausendmal schneller als der Verstand. Wenn wir die Tür öffnen, über soziale Schichten und Vorurteile hinweg, passiert etwas mit uns. Verbindung entsteht. Wir werden beschenkt. Vielleicht tragen wir alle tief in uns die Sehnsucht nach solchen Momenten.

Wenn es an Grazer Frühsommerabenden dunkel wird und die Studenten in den Lokalen feiern, verkrieche ich mich für die kommenden Nächte unter der Treppe zur Warenausgabe im Industriegebiet. Der Lärm der Züge, der Verwesungsgestank aus einem nahen Tierkotcontainer, die Autos mit glitzernden Alufelgen, die Dealer und Freier, ein Gewitter und strömender Regen, mein Beckenknochen auf dem harten Asphalt – es ist ein beschwerliches Leben.

Was bleibt?

Mario zum Beispiel. Der Caritas-Betreuer ist der Einzige, dem ich in diesen Tagen meine Identität preisgebe. Er arbeitet in der Spätschicht im Ressi-Dorf, als wir uns treffen. Das „Dorf“, eine Handvoll Einbaucontainer, liegt nur wenige hundert Meter von dem Parkplatz entfernt, auf dem ich wohne. Bei einem Spaziergang durch das Gelände in der Dämmerung entdecke ich die kleinen Wohneinheiten und betrete neugierig das Gelände. Rund 20 Obdachlose leben hier dauerhaft, allesamt schwer alkoholkrank. Die Stimmung ist überraschend entspannt, von Depressionen keine Spur. Einige sitzen an einem Tisch im Hof ​​und winken mir zu. „Hi, ich bin Mario!“, begrüßt mich der Teamkoordinator im Gemeinschaftsraum. Später erfahre ich, dass er eigentlich Wirtschaftsingenieur studiert hat, dann aber hier angefangen hat zu arbeiten und nie aufgehört hat. Jetzt schüttelt er mir die Hand. „Und du?“ Er fragt mich, wie er helfen kann. Ist direkt. Hakt nicht nach, sondern bietet mir ein Glas Wasser an. Hört zu. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Wien komme und die Nacht auf der Straße verbringe, greift er zum Telefon, um einen Schlafplatz zu organisieren. Doch ich winke ab. Am nächsten Abend schaue ich nochmal vorbei, Mario hat wieder Spätschicht. Diesmal will ich mich nicht verstellen. Nach ein paar Minuten erzähle ich ihm, warum ich hier bin, von meinem früheren Job als Pilot und dem Mittagessen im Marienstüberl, von der Nacht auf dem Parkplatz und meiner Familie in Wien. Er sagt, meine Sprache und meine Art zu gehen seien ihm sofort aufgefallen. „Man ist es gewohnt, mit Menschen Kontakt aufzunehmen. Das schafft nicht jeder.“

Bald reden wir über Politik und Studiengebühren, über unsere Töchter, die ungleiche Verteilung von Reichtum und was es bedeutet, bedingungslos zu geben. Er zeigt mir Fotos von Bewohnern, die inzwischen gestorben sind, aber am Ende ihres Lebens hier noch einmal eine Heimat gefunden haben. Sie schauen entspannt in die Kamera. Manche umarmen sich und lachen. „Es ist eine ehrlichere Welt“, sagt Mario über seine Klienten.

Klingt es zu kitschig, wenn ich sage, die bleibenden Momente jener Tage seien jene gewesen, in denen die Menschen mich nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen gesehen haben? So fühlt es sich an. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau auf der Murbrücke. Die Bäckerin am zweiten Morgen, die mir eine Tüte Gebäck überreicht und zum Abschied spontan sagt, sie werde mich in ihr Abendgebet einschließen. Viktors letzter Kaffeegutschein, den er mir ohne zu zögern gibt. Josips Einladung zum gemeinsamen Frühstück. Die Worte kommen schüchtern, fast ungeschickt. Er spricht selten.

Nach einer letzten Nacht im Regen, in der irgendwann selbst mein Platz unter der Betontreppe nicht mehr trocken bleibt, bin ich froh, wieder nach Hause fahren zu können. Und für einen Moment komme ich mir tatsächlich vor wie ein Hochstapler. Als hätte ich meine Tischnachbarn betrogen, die gerade beim Frühstück im Marienstüberl sitzen und diese Möglichkeit nicht haben.

Ich liege auf der Holzterrasse im Augarten und schaue in den Himmel. Vier Tage lang habe ich von einem Moment zum nächsten gelebt. Verschluckt von der Welt, ohne Notizbuch, ohne Handy im Vakuum der Zeit. Endlose Tage, in denen ich durch die Straßen irrte, auf Parkbänken döste und von den Almosen anderer Leute lebte.

Jetzt lasse ich mich von der Sonne wärmen. Genauso wie der Student mit dem dicken Medizinbuch neben mir. Die fußballspielenden Kinder. Die Muslima unter dem Schleier. Der Jogger mit seinem Hund. Der ältere Herr auf seinem Fahrrad. Drogendealer und Polizisten. Obdachlose und Millionäre.

Freiheit bedeutet, nicht jemand sein zu müssen. Und zu spüren, dass wir alle das gleiche Recht haben, hier zu sein. Unseren Platz in dieser Welt zu finden und sie mit Leben zu füllen, so gut wir können.



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